Dirk sieht wirklich müde aus bei unserem Skype-Gespräch. Kein Wunder, er ist in Deutschland und dort ist es fast Mitternacht, als ich ihn nach einem Tag voller Behördentermine, Familienangelegenheiten und einem verspateten Flug endlich erreiche. Der gebürtige Dortmunder aus einer Kleinunterneh- merfamilie hat als Gründer und Geschäftsführer des German Accelerator einiges zu tun.
Nach dem Gymnasium studierte er zuerst Elektrotechnik und arbeitete bei Siemens in München mit dem Ziel, Berufserfahrung für den späteren Einstieg ins Familienunternehmen zu sammeln. Davon kam er aber schnell ab. Er bewarb sich an der University of Michigan in Ann Harbor zu einem MBA-Studium, das Deutschen offenstand. Als Ingenieur fand er all die Praxisanwendungen, wie sie in MBA-Programmen gang und gäbe sind, faszinierend.
Sein Praktikum bei Procter & Gamble lehrte ihn die hochanalytische Herangehensweise bei Marketingkampagnen. Er blieb und begann Vollzeit in Deutschland, bis er einen Anruf von der Barings Bank erhielt, die ihn als Investmentmanager einstellte und für die er das Venture-Kapital-Geschäft in Deutschland aufbauen sollte. So kam er ins Silicon Valley und seine ersten Projekte dazu führten ihn – ein Wink des Schicksals – sogleich zurück nach Dortmund. Seine Heimatstadt hatte damals den größten Technologiepark und er sollte den dortigen Regionalfonds leiten. Er investierte vor allen in deutsche Hardware-Start-ups, die aus den Fraunhofer-Instituten entstanden waren.
1995 ging die altehrwürdige Barings Bank aufgrund von Spekulationsverlusten bankrott. Er blieb noch zwei Jahre in der neuen Bankgesellschaft der holländischen ING, gründete dann aber 1999 seine eigene VC-Gesellschaft im amerikanischen Stil. Dabei gelang es ihm, 200 Millionen Dollar von hauptsächlich amerikanischen Investoren aufzustellen, bis der Neue Markt mit dem Platzen der Dotcom-Blase zusammenbrach. Die Deutsche Börse schloss den Neuen Markt, was Dirk als verhängnisvollen Fehler ansieht, weil sich dies in der mangelnden Liquidität und den vergleichsweise geringen Investitionen in deutsche Start-ups bemerkbar mache.
Dieser Zusammenbruch zwang ihn, selbst einen Pivot durchzuführen. Fortan konzentrierte Dirk sich mit seiner Münchner PolyTechnos Venture-Partners auf Industriepartner. Dabei stellte er fest: Die größten Erfolge hatte er, wenn die deutschen Unternehmen, in die er investiert hatte, die Forschungs- und Entwicklungsabteilung in Deutschland beließen und Verkauf und Business Development vom Silicon Valley aus in Angriff nahmen. Das brachte ihn 2008 wieder zurück ins Silicon Valley. Er hatte erkannt, dass es nicht genügt, von Deutschland aus ein paar Termine zu koordinieren, einzufliegen und nach einer Woche wieder nach Deutschland zurückzukommen und zu erwarten, dass nun alles klappen würde. Man müsse vor Ort und Teil des Netzwerks sein, seine Erfahrung mit anderen teilen und Wert schaffen, erst dann bekomme man selbst etwas zurück. Hinzu kam, dass er neue Herausforderungen suchte, weil er nicht mehr das Gefühl hatte, in seiner momentanen Position viel dazuzulernen.
Der Umzug war ernüchternd. Niemand wartete auf Dirk Kanngiesser im Silicon Valley. Zwar wurde er herzlich aufgenommen, aber was hatte er anderen zu bieten? Es dauerte ein Jahr, sich zurechtzufinden. In dieser Zeit lernte er den Deutschen Holger Assenmacher kennen. Mit ihm und ein paar anderen gründete er die Softwarefirma AppCentral. Sie probierten sehr viel aus und hatten intensiven Kundenkontakt. Das war eine ganz andere Herangehensweise als in Deutschland, wo zuerst das Produkt gebaut wird, bevor man nach langer Entwicklung endlich den Kunden ranlässt. Das deutsche Mantra lautet ja: Je tiefer man in eine Materie eintaucht und je länger die Entwicklungsphase dauert, desto besser wird das Produkt. Das stimmt so aber nicht, weil kritisches Feedback vom Kunden nicht oder erst zu spät in den Entwicklungsprozess einfließt.
AppCentral wurde 2012 dann erfolgreich verkauft. Auf einer Veranstaltung lernte Dirk Dietmar Harhoff kennenlernte, der gerade eine Gastprofessur in Stanford hatte. Bei gemeinsamen Besuchen waren sie auch im Plug and Play Tech Center in Sunnyvale, wo sie eine österreichische Fahne sahen, die den Platz für österreichische Start-ups markierte, die durch das Programm der Advantage Austria einige Monate im Silicon Valley verbrachten. Das nahmen sie als Anstoß, um in den deutschen Ministerien ihre Idee eines deutschen Akzelerators voranzutreiben. Gemeinsam mit dem ebenfalls in der Bay Area lebenden Oliver Hanisch, der eine ähnliche Idee hatte, gründeten sie 2012 den German Accelerator.
Anfänglich war die politische Elite der Meinung, dass der German Accelerator ein Ausverkauf deutscher Innovation an die Amerikaner ist. Deutsche Jungunternehmer auf Staatskosten ins Silicon Valley zu schicken, schien ihnen eine eklatante Fehlentscheidung, obwohl man durchaus erkannte, dass dort andere Werte in Bezug auf Innovation gelebt wurden als in Deutschland. Die Stimmung hat sich seither aber gewandelt. Das Modell wird als äußerst erfolgreich betrachtet, was sich in Zweigstellen des German Accelerators in New York City und Boston manifestiert. Weitere Zweigstellen speziell in Asien sind im Gespräch. Pro Jahr durchlaufen nun bis zu 36 deutsche Start-ups für einen Zeitraum von drei bis sechs Monaten das Programm.
Dirks Ansporn ist, sich für sein Geburtsland zu engagieren. Seine Arbeit soll nicht nur die Start-up-Szene und die deutsche Wirtschaft beleben, sondern auf internationaler Ebene beweisen, dass Deutschland neben SAP noch andere innovative Vorzeigeunternehmen hervorbringen kann. Um global erfolgreich zu sein, muss man sich als deutsches Unternehmen sehr früh mit dem amerikanischen Markt auseinandersetzen.
Er hatte zwar nicht vor, sich in einem Start-up selbst als Executive zu betätigen, doch erstens kommt es anders und zweitens als man denkt. Ein Start-up aus dem Augmented-Reality-Bereich hat es ihm persönlich angetan und seit vergangenem Jahr ist er der Geschäftsführer von Seebright.
Der German Accelerator wurde nach drei Jahren um eine weitere Dreijahresperiode verlängert und expandiert, wie schon erwähnt. Mit dem Bostoner lifescience-orientierten Accelerator stellen sich neue Herausforderungen, weil es eine riesige Bandbreite an Geschäftsmodellen und Mentoren gibt. Zusätzlich wurde die Organisation German Innovators gegründet, die sich aus demselben Ansatz nicht an Start-ups, sondern an deutsche Klein- und Mittelstandsbetriebe richtet und einen Brückenschlag zu den USA bietet. Deutsche Unternehmen verstehen heute Innovation zu eng, nur im Bezug auf Produktinnovation, und müssen lernen, dass es mehrere Arten disruptiver Innovation gibt.
Im Teil zwei dieses Gesprächs spricht Dirk über Deutsche Leadership, Technologieverliebtheit und fehlendes Benchmarking.
Dieses Porträt erschien im Buch Das Silicon-Valley-Mindset.
Ein Gedanke zu “Porträt Dirk Kanngiesser vom German Accelerator”